Susan Sontag: Anmerkungen zu >>Camp<< (1964) [Teil 2]

Nachdem in der letzten Woche die Seiten 229 bis 234 aus Susan Sontags Text „Anmerkungen zu >>Camp<<“ zusammengefasst wurden, folgt in dieser Woche die Zusammenfassung der Seiten 235 bis 248 desselben Textes.

Laut der amerikanischen Schriftstellerin Susan Sontag begann die Geschichte des Camps im späten 17. Jahrhundert und frühen 18. Jahrhundert. Diese Zeit gilt auch als die Blütezeit des Camps. Während die Camp-Kunst bis ins 19. Jahrhundert ein weitverbreitetes Gemeingut war, entwickelte sie sich in diesem Jahrhundert zu einer Kunst der Randgruppen. Während der Zeit der „Jugendstilbewegung“ erlebte die Camp-Kunst eine erneute Hochphase (Vgl. S. 235).

Dinge die mit dem Begriff des Camps bezeichnet werden können, können auch andere Eigenschaften und Attribute besitzen. Bilder aus der Jugendstilbewegung können beispielsweise Camp sein, obwohl sie den Inhalt in den Vordergrund stellen. Ein Gegenstand kann gleichzeitig als Gegenstand selbst und Kunstobjekt angesehen werden. Während eine Lampe aus der Jugendstilbewegung sowohl als Lampe mit der Funktion Licht zu erzeugen und einen Raum zu erhellen identifiziert wird, kann diese aber auch als Kunstobjekt angesehen werden. Camp kann sowohl Tätigkeiten als auch Sachen oder Personen beschreiben. In beiden Fällen umfasst Camp eine Doppeldeutigkeit. Hier wird zwischen allgemeiner und persönlicher Wahrnehmung unterschieden (Vgl. S. 235f.).

Susan Sontag behauptet, dass zwischen „naivem und vorsätzlichem Camp“ unterschieden werden muss. Das vorsätzliche Camp ist sich dessen bewusst, dass es Camp ist und das „reine Camp“ ist immer naiv. Bei der Erzeugung eines reinen Camps verfolgen die Urheber nicht die Absicht ein Camp zu erzeugen. Die Betrachtung eines Werkes soll es dem Betrachter ermöglichen zu erkennen, ob es sich bei diesem um ein reines oder vorsätzliches Camp handelt (Vgl. S. 236f.).

Wenn ein Werk mit der Intension ein Camp-Kunstwerk zu schaffen erzeugt wird, dann wirkt sich dieser Vorsatz immer zum Nachteil des Kunstwerkes aus. Filme die ohne den Vorsatz einen Camp Film zu schaffen gedreht wurden, sind besser als vorsätzlich gedrehte Camp-Filme. Gelungene Camp Filme zeichnen sich durch ein „ausgewogenes Verhältnis von Parodie und Selbstparodie“ aus (Vgl. S. 237).

Camp beruht auf Naivität, untergräbt diese aber auch zugleich. Während ein Objekt entweder Camp ist oder nicht, kann eine Person dahingehend beeinflusst werden sich campy zu verhalten, ohne sich dessen bewusst zu sein (Vgl. S. 237f.)

Sowohl beim reinen als auch beim naiven Camp steht eine Ernsthaftigkeit im Vordergrund, die ihren eigentlichen Zweck verfehlt. Ein Camp muss über die richtige Mischung von Naivität, Phantastik, Übertreibung und Leidenschaftlichkeit verfügen. Im Gegensatz zum Camp steckt in Schlechtem zu wenig Ehrgeiz (Vgl. S. 238).

In der Camp-Kunst steckt der Hang zur „Extravaganz“ und des Übermaßes. Das Übermaß eines Kunstwerkes zeigt sich in dessen Stil und dem Ehrgeiz des Künstlers der dahintersteht. Obwohl die Camp-Kunst an sich selbst den Anspruch stellt eine gewisse Ernsthaftigkeit auszudrücken, kann sie aufgrund des Hangs zum Übermaß nicht ernst genommen werden (Vgl. S. 238f.).

Ein Camp-Kunstwerk muss leidenschaftlich und darf nicht perfekt sein. Camp umschreibt den Versuch etwas Außergewöhnliches zu tun. Das Außergewöhnliche wird durch das Berückende oder Individuelle ausgedrückt. Erst wenn etwas theatralisch oder berückend ist, bzw. über eine gewisse Extravaganz verfügt, kann es als Camp bezeichnet werden. Filme die Menschen als schlecht oder lächerlich wahrnehmen, werden als Camp angesehen. Die Phantasie der Camp-Filme ist von einer bescheidenen und vulgären Art gekennzeichnet (Vgl. S. 239f.).

Gegenstände und Kunstwerke die früher einmal als Camp angesehen wurden, müssen aus heutiger Perspektive nicht mehr Camp sein. Während sich für einen Gegenstand früher die Gesamtheit interessiert hat, kann derselbe Gegenstand heute nur noch eine kleine Gruppe ansprechen. Auch Dinge und Gegenstände die zuerst nur Randgruppen angesprochen haben, können ins Interesse der Gesamtheit rücken. Alter eines Gegenstandes ist kein Kriterium des Camps, sondern das nachlassende Interesse an diesem (Vgl. S. 240).

Unter Camp wird „die Verherrlichung des Charakters“ verstanden. Während der „momentane Charakter“ als Camp wahrgenommen wird, entspricht die „Entwicklung des Charakters“ nicht den Idealen des Camps. Entwicklungen des Charakters führen dazu, dass die Elemente des Camps zurücktreten (Vgl. S. 241).

Susan Sontag zufolge untereilt der Camp-Geschmack nicht in gute oder schlechte Kunst. Vielmehr handelt es sich um einen neuen Bewertungsansatz der Kunst, der neue bzw. ergänzende Normen bietet (Vgl. S. 241).

Der Betrachter eines Kunstwerkes setzt die Absicht und die Ausführung des Künstlers miteinander in Verbindung. Werden die Absichten als erfolgreich ausgeführt angesehen, dann wird ein Kunstwerk als gelungen wahrgenommen (S. 241f.).

Laut Susan Sontag gibt es verschiedene schöpferische Erlebnisweisen. Neben der tragischen und komischen Ernsthaftigkeit „der hohen Kultur und des hohen Stils der Bewertung von Menschen“, gibt es auch eine Ernsthaftigkeit, die von Wahnsinn, Qual und Grausamkeit gekennzeichnet ist. Bei Camp-Kunst wird die Abweichung des Resultats von der ursprünglichen Intension akzeptiert. Dies widerspricht der Auffassung, dass ein Kunstwerk dann besonders gelungen ist, wenn die Absichten des Künstlers erfolgreich ausgeführt wurden. Die Normen der Camp-Kunst weichen deutlich von den Normen der traditionellen Kunst ab. Ein Camp-Kunstwerk zeichnet sich nicht durch Perfektion, sondern dadurch aus, dass es „eine neue gültige Erlebnisweise aufzeigt“ (Vgl. S. 242).

Susan Sontag unterscheidet drei verschiedene Erlebnisweisen. Die erste Erlebnisweise bezeichnet sie als Erlebnisweise der hohen Kultur. Die zweite Erlebnisweise ist die der extremen Gefühlslagen und die dritte Erlebnisweise ist die des Camps. Die erste Erlebnisweise ist eng mit dem Begriff der Moral verknüpft, während die zweite Erlebnisweise aus den Spannungen, die zwischen der moralischen und ästhetischen Leidenschaft herrschen, entsteht. Besonders in „weiten Kreisen der zeitgenössischen Avantgarde“ ist die Erlebnisweise der extremen Gefühlslagen weit verbreitet. Beim Camp steht die Ästhetik im Mittelpunkt. Hinter dem Begriff des Camps verbirgt sich eine „ästhetische Erfahrung der Welt“. Sie stellt den Stil eines Gegenstandes über dessen Inhalt. Darüber hinaus wird die Ästhetik gegenüber der Moral und die Ironie gegenüber der Tragödie in den Vordergrund gerückt (Vgl. S. 242f.).

Nach Auffassung der amerikanischen Schriftstellerin stehen Camp und Tragödie in einem Gegensatz zueinander. Während sich im Camp Elemente wiederfinden lassen, die der Ernsthaftigkeit oder dem Pathos zugeordnet werden können, stellt das Tragische niemals einen Teil des Camps dar (Vgl. S. 243).

Ein Buch kann nur dann als Camp-Buch bezeichnet werden, wenn seine Schreibweise nicht zu perfekt oder ernst ist. Wenn darüber geurteilt wird, ob ein Kunstwerk Camp ist oder nicht, steht der Aspekt des Stils immer im Vordergrund. In seinem eigenen Stil hat jeder Künstler individuelle Möglichkeiten seine Ideen auszudrücken (Vgl. S.243).

Das Camp richtet sein Hauptaugenmerk nicht auf den Ernst des Lebens. Es unterscheidet sich von der Ernsthaftigkeit durch seine anti-seriöse und spielerische Art. Menschen die Kunstwerke nur nach ihrer Ernsthaftigkeit bewerten, wissen die Camp-Kunst nicht zu schätzen (Vgl. S. 243).

Früher konnten sich Menschen mit Hilfe von Satire und Ironie über den Ernst des Lebens hinwegsetzen. Aus heutiger Perspektive sind diese Möglichkeiten so gut wie erschöpft und nicht mehr zeitgemäß genug. Aus diesem Grund hat sich das Camp selbst als Regel gesetzt, dass das Kunstmäßige und Theatralische als neue Ideale angestrebt werden sollen. Kunstmäßigkeit und Theatralik sollen dabei helfen, sich über den Ernst hinwegzusetzen (Vgl. S. 243f.).

Auch wenn es das Camp erlaubt, die Welt aus einer „komischen Sicht“ heraus zu betrachten, so unterscheidet es sich trotzdem von der bitteren Komödie, die immer mit einer gewissen Gleichgültigkeit einhergeht. Gleichgültigkeit ist nur der Elite der Gesellschaft freigestellt. Für Susan Sontag stellt das Camp in der heutigen Zeit den „modernen Dandyismus“ dar. Sie sieht im Camp die Antwort auf die Frage, wie Menschen die im heutigen Zeitalter leben, das von Massenkultur bestimmt wird, ein moderner Dandy sein können. Im 19. Jahrhundert nahm der Dandy eine Haltung „der Verachtung oder der Langeweile“ ein. Sein Interesse richtete sich auf Gegenstände, die nicht dem Geschmack der Masse entsprachen, bzw. der Masse nicht zugänglich waren. Hierzu zählten unter anderem „seltene Weine“ oder „Samtjacken“. Der Blick „der Kenner des Camps“ hingegen richtete sich auch auf die Künste der Massen. Das Camp unterscheidet bei der Betrachtung und Bewertung von Gegenständen nicht ob diese einzigartig oder nur Massengut sind. In der Camp-Kunst haben alle Objekte den gleichen Wert. Ein Tisch ist nicht mehr wert als ein Stuhl und umgekehrt. Liebhaber des Camps schätzen das Vulgäre, für das der Dandy des 19. Jahrhunderts nur Verachtung übrig hatte.  Zu allem was den Dandy entweder gelangweilt oder abgestoßen hatte, fühlt sich der Liebhaber des Camps hingezogen und kann diese Dinge mit Freude genießen (Vgl. S. 244f.).

Ziel des Camps ist es die Entstehung von Langeweile zu vermeiden. Camp und Langweile stehen in einem Verhältnis der „Wechselbeziehung“ zueinander. Laut Auffassung Susan Sontags ist der Camp-Geschmack vorrangig in reichen Überflussgesellschaften beheimatet. Dies Aussage bezieht sich aber im Wesentlichen auf ein vorrangegangenes Zeitalter der Aristokratie. Da es heute nicht mehr wirkliche Aristokraten gibt, stellt sich die Frage, wer die heutigen Träger des Camp-Geschmacks sind. Die Antwort Sontags auf diese Frage ist, dass es sich um eine unvorbereitet und spontan entstanden Gruppe handelt, die sich selbst zu dieser ernannt hat. Vorrangig besteht sie aus Homosexuellen (Vgl. S. 245).

Der Camp-Geschmack darf nicht mit dem Homosexuellen-Geschmack gleichgesetzt werden, aber beide Geschmäcker stehen in einem verwandtschaftlichen Verhältnis zueinander, dass sich überlappt und nicht eindeutig voneinander zu trennen ist. Im Kreise Homosexueller findet der Camp-Geschmack seine größten Anhänger und dort ist er am weitesten verbreitet. An dieser Stelle des Textes vergleicht die Autorin das Verhältnis von Juden zum Liberalismus mit dem Verhältnis von Homosexuellen zum Camp-Geschmack. Laut ihrer Meinung stellen beide Gruppen „dominierende schöpferische Minderheiten in der zeitgenössischen urbanen Kultur dar“. Beide Gruppen erzeugen Erlebnisweisen. Die Homosexuellen förderten die Erlebnisweise des Camp-Geschmacks, da sie sich von dieser erhofften, dass sie zu ihrer Integration in die Gesamtgesellschaft führen würde. Das Camp versucht sich von jeder Form der Moral zu lösen und stellt stattdessen das Spielerische in den Vordergrund. Jede von einer Gruppe geschaffene Erlebnisweise sollte stets deren persönlichen Interessen dienen (Vgl. S. 245f.).

Susan Sontag stellt die These auf, dass der Camp-Geschmack auch ohne die Unterstützung der Homosexuellen zustande gekommen wäre. Des Weiteren wiederspricht die Autorin der Auffassung, dass die „Erlebnisweise der hohen Kultur“ einen „Alleinanspruch auf Kultur hat“. Neben einem guten Geschmack, ist es auch wichtig, dass jeder Mensch auch über einen schlechten Geschmack verfügt. Wenn ein Mensch immer nur sein Interesse auf Gegenstände richtet die der hohen Kultur sowie dem guten Geschmack entsprechen, dann werden alle Dinge die nicht diesen Idealen entsprechen außen vorgelassen (Vgl. S. 246f.).

Dem Camp geht es nicht darum Wertungen vorzunehmen und zu verlangen, dass alles was als ernst angesehen wird, auch als geschmacklos bezeichnet werden muss. Vielmehr stellt das Camp eine Form der „Aufgeschlossenheit“ und des Genusses dar. Auch wenn es nach außen oft boshaft und zynisch wirkt, steht nur der Genuss im Vordergrund (Vgl. S. 247).

Der Camp-Geschmack versucht nicht über den Charakter eines Menschen zu urteilen, sondern die Intensität des Charakters zu genießen. Über Camp wird nicht gelacht, sondern es wird genossen. Aus diesem Grund lässt sich im Camp-Geschmack auch eine Form der Liebe zur menschlichen Natur erkennen (Vgl. S. 247f.).

Wenn in einem Gegenstand oder einem individuellen Stil nicht erkennbar ist, dass dort Liebe eingegangen ist, dann können diese nicht als Camp-Kunst bezeichnet werden (Vgl. S. 248).

In ihrer letzten Anmerkung schreibt die amerikanische Schriftstellerin, dass Camp etwas ist das „gut ist, weil es schrecklich ist“. Das dieser Satz keine Allgemeingültigkeit besitzt, hat sie in den 57 vorhergegangen Anmerkungen zu erklären versucht (Vgl. S. 248).

Literatur: 

Reckwitz, Andreas u. Prinz, Sophia u. Schäfer, Hilmar (Hg.): Ästhetik und Gesellschaft. Grundlagentexte aus Sozioologie und Kulturwissenschaft, Berlin 2015, S. 229-248.

Sontag, Susan: „Anmerkungen zu Camp“, in: dies., Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Reinbek: Rohwohlt 1968, S. 269-284 [„Notes on Camp, in: dies., Against Interpretation, and other Essays, New York: Anchor Books 1990, S. 275-292; Erstausgabe des Buches New York: Farrar. Straus & Giroux 1966; der Aufsatz erschien erstmals in: The Partisan Review 31 (1964), S. 515-530]. Aus dem Englischen von Mark W. Rien.

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