Nachdem in der letzten Woche ein Textauszug aus dem Einführungskapitel von Boris Groys Werk „Über das Neue“ zusammengefasst wurde, folgt in dieser Woche eine Zusammenfassung von zwei weiteren Textauszügen aus demselben Werk.
Der erste Textauszug stammt aus dem Kapitel „Die Wertgrenze zwischen kulturellem Archiv und profanem Raum“. In diesem Textauszug schreibt Groys, dass jede Kultur einen hierarchischen Aufbau zugrunde liegt. Dies bedeutet, dass alle Bestandteile einer Kultur einen Wert haben, „der durch die Stellung in der kulturellen Werthierarchie bestimmt wird“. Die Hierarchie einer Kultur wird von einem „strukturierten kulturellen Gedächtnis“ gebildet. Beispiele für das heutige „strukturierte kulturelle Gedächtnis“ sind laut dem Philosophen zum Beispiel Archive, Museen oder Bibliotheken. Bei diesen Beispielen handelt es sich um Institutionen, die hierarchisch organisiert sind und das „materialisierte kulturelle Gedächtnis“ beschützen sollen. Des Weiteren gehört es zu den Aufgaben der unterschiedlichen Institutionen irrelevante und veraltete Kulturmuster als solche zu identifizieren und zu entfernen sowie neue relevante Kulturen auszuwählen (Vgl. S. 378).
Eine kulturelle Tradition verfügt über kein einheitliches „Erhaltungssystem“ oder „Auswahlprinzip“. Jede kulturelle Tradition besitzt individuelle „Erhaltungssysteme“ und „Auswahlprinzipien“. Des Weiteren stellt eine Kultur kein homogenes Gebilde dar, da sie sich aus unterschiedlichen Subkulturen zusammensetzt. Jede Subkultur hat wiederum eigene „Auswahlprinzipien“ und „Erhaltungssysteme“. Hier zeigt sich, dass jede kulturelle Hierarchie in einer Beziehung zu etwas steht und keine Unabhängigkeit genießt (Vgl. S. 378f.).
Nach der Auffassung des Philosophen findet aktuell eine „Formalisierung“ und Verallgemeinerung der kulturellen Archive statt. Die Institutionen, die kulturelle Informationen aufbewahren, vereinen sich zu einem Einheitssystem, welches von den „konkreten nationalen Kulturen“ abrückt. Das Einheitssystem präsentiert nur das, was von ihm als „kulturell wertvoll und bewahrenswert“ eingeschätzt wird (Vgl. S. 379).
Das kulturelle Archiv identifiziert Neues als etwas, dass sich von bereits Bekannten unterscheidet. Des Weiteren spricht es Neuem die gleiche Bedeutung zu, wie den bereits im kulturellen Gedächtnis etablierten Dingen. Während ein kulturelles Archiv das Neue aufbewahrt, schenkt es den Reproduktionen keine Aufmerksamkeit, da diese als überflüssig wahrgenommen werden (Vgl. S. 379).
Unter einem profanen Raum versteht Groys einen heterogenen abgegrenzten Raum, der alle Dinge umfasst, die nicht von Archiven erfasst werden. Alle Dinge die sich im profanen Raum befinden werden als unbedeutend und nicht erhaltenswert eingestuft. Aus diesem Grund werden sie nicht aufbewahrt und verschwinden irgendwann. Obwohl der profane Raum nur aus Uninteressantem, Irrelevanten und Wertlosem besteht, stellt er trotzdem ein Sammelbecken für mögliche „neue kulturelle Werte“ dar. Dies liegt daran, dass er etwas Anderes als die vom kulturellen Archiv aufbewahrten und als bedeutend eingestuften Dinge darstellt. Neues entsteht laut dem Philosophen erst durch einen „valorisierenden Vergleich zwischen den kulturellen Werten und den Dingen im profanen Raum“. Der profane Raum entsteht dadurch, dass der „valorisierende Vergleich“ gar nicht oder nur sehr selten gezogen wird (Vgl. S. 379).
Die beiden Begriffe des „profanen Raums“ und des „kulturellen Archivs“ ergänzen sich gegenseitig und sind „aufeinander bezogen“. Häufig wird unter der Einführung von etwas Neuem ein Handel zwischen mindestens zwei unterschiedlichen Wertehierarchien verstanden, welche „füreinander profane Räume bilden“ (Vgl. S. 380).
Der zweite Textauszug stammt aus dem Kapitel „Innovation als Umwertung der Werte“. Hier führt Groys die These auf, dass eine Innovation aus historischer Perspektive zunächst einmal als „eine Abwertung der Werte“ aufgefasst wird, bevor sie sich etabliert. Um seine These zu belegen führt der Philosoph das Beispiel der verhöhnenden Profanierung der Mona Lisa durch den französischen Maler Marcel Duchamp auf. In der Profanierung der Mona Lisa, der von Marcel Duchamp ein Schnauz- und Spitzbart hinzugefügt wurde, sahen die Menschen den Beginn einer alltäglichen und „wertlosen Nicht-Kunst“ sowie das „Ende der wertvollen Kunst“. Ein „Umwertung der Werte“ wird nicht direkt in ihren unterschiedlichen Facetten wahrgenommen. Erst nach zeitlichen Abständen werden jeweils andere Aspekte der umgewerteten Werte erkannt (Vgl. S. 380).
Die Einführung von etwas Neuem geht zum einen mit einer „Aufwertung des Profanen“ und zum anderen mit einer Abwertung bereits „bestehender kultureller Werte“ einher. Eine Innovation ist die Inkarnation der ökonomischen Logik, die darauf ausgerichtet ist kulturelle Kriterien zu erfüllen. Etwas Neues wird erst dann im Archiv aufbewahrt, wenn es die ökonomische Logik konsequent umsetzt. Ist eine Innovation nicht dazu in der Lage „die Logik der Kultur fortzusetzen“, findet sie auch keinen Einzug ins Archiv. Auch wenn das Neue darauf ausgerichtet ist kulturelle Werte abzuwerten, werden diese nicht verändert (Vgl. S. 380f.).
Am Beispiel der von Duchamps verunstalteten Mona Lisa erklärt Groys, dass die von Duchamps geschaffene Innovation nicht zu einer Abwertung der kulturellen Werte des Originalbilds geführt habe. Leonardo da Vincis Gemälde genießt immer noch dieselbe Aufmerksamkeit und Bewunderung wie zuvor. Aufgewertet wird nur Duchamps verunstaltete Nachahmung der Mona Lisa. In einem Archiv wird nur das aufbewahrt, was von der Einführung des Neuem aufgewertet wird. Das Aufgewertete ist nicht nur für Duchamps von Bedeutung, sondern für das gesamte kulturelle Gedächtnis (Vgl. S. 381).
Das kulturelle Gedächtnis ist eine Ansammlung von „individuellen Innovationen“. Die „individuellen Innovationen“ sind von einem „exemplarischen Charakter“ geprägt. Jede Innovation verschafft dem kulturellen Gedächtnis und den Institutionen, die es aufbewahrt und schützt, Stabilität und Wachstum. Für die Kultur ist nur der Wert von etwas neu Eingeführtem von Bedeutung, nicht aber der Sinn des Neuen (Vgl. S. 381f.).
Unter dem Profanen wird oftmals die Wirklichkeit verstanden. Der profane Raum baut einen so starken Druck auf die „privilegierte Kultur“ aus, dass diese den profanen Raum in sich aufnimmt. Durch die Aufnahme des profanen Raums dringt die Wirklichkeit in die Kultur ein und nimmt Modifikationen an ihr vor (Vgl. S. 382).
Druck von außen kann dem kulturellen Gedächtnis nichts anhaben so lange der „kulturelle Mechanismus“ nicht außer Kraft gesetzt wird. Profanes erfährt nur dann eine Aufwertung, wenn es „ins kulturelle Gedächtnis nach dessen eigenen Regeln eingegliedert werden kann“. Vorrausetzung für eine Archivierung ist die Erfüllung bestimmter Forderungen der „kulturökonomischen Logik“. Abschließend hält Groys fest, dass eine Innovation dann zustande kommt, wenn sie die Wertgrenze, die den profanen Raum von dem kulturellen Gedächtnis trennt, erfolgreich überschreitet (Vgl. S. 382f.).
Literatur: Auszug aus Boris Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, Frankfurt/M.: Fischer 2004, S. 9-12, 55f. u. 63-65; Erstausgabe des Buches München: Hanser 1992.